Wir sollten Bewerber-Ansprache neu denken

Mitarbeiter-Versorgung | Interview Grotegut-top

Nach 14 Jahren als Personalerin und Sparringspartnerin von Führungskräften beim DAX-Konzern Deutsche Telekom AG weiß Silke Grotegut genau, wie HR-Abteilungen ticken. Seit 2015 unterstützt sie als selbstständige Karriereberaterin Menschen bei deren beruflicher Neupositionierung. Wissenschaftler und Astronauten gehören ebenso zu ihren Kunden wie Führungskräfte aller Ebenen und Unternehmensgrößen:
https://www.silkegrotegut.de/

Frau Grotegut, wenn jemand Sie fragt, was Sie beruflich machen – was antworten Sie?

Ich bin Karriere- und Bewerbungscoach und unterstütze Menschen bei ihrer beruflichen Neupositionierung. Das reicht vom gemeinsamen Suchen und Finden neuer beruflicher Perspektiven, der Verbesserung der Bewerbungsunterlagen und Überzeugungskraft in Vorstellungsgesprächen bis zur Entwicklung einer eigenen Personal Brand, die beispielsweise über die Sozialen- Business-Netzwerke so sichtbar ist, dass die Jobangebote von selbst kommen. Über den Aspekt „Karriere machen mit XING, LinkedIn und Co.“ ist gerade ein Buch von mir mit vielen praxisnahen Tipps erschienen.
Bevor ich mich selbstständig gemacht habe, war ich vierzehn Jahre Personalerin und Sparringspartnerin von Führungskräften bei der Deutschen Telekom und pflege noch heute gute Kontakte im Bereich Recruiting. Mit der Erfahrung und dem Wissen kann ich meine Klienten gut beraten, wie sie sich auf dem heutigen, sich ständig verändernden Arbeitsmarkt erfolgreich bewerben und neue interessante Positionen finden können.

Sie haben beruflich viel mit Menschen zu tun, die auf der Suche nach neuen Aufgaben sind. Hat sich der Anspruch an zukünftige Arbeitgeber in den letzten Jahren verändert?

Der Anspruch hat sich deutlich verändert. Und zwar aus mehreren Gründen: Die Welt wird immer digitaler und das betrifft natürlich auch unsere Wirtschaft und somit die Bewerbungs- und Auswahlverfahren. Dann sind die Werte der Generation, die heute in den Arbeitsmarkt eintritt, ganz andere als beispielsweise die der Baby Boomer.

Ich habe in meiner Beratung mit mehreren Generationen zu tun und sehe große Unterschiede, was Themen wie freie Entfaltung, Verantwortungsbereitschaft oder die Grenzziehungen zwischen Arbeits- und Privatleben angeht. Mit den unterschiedlichen Werten der Generationen, gerade der jüngeren, müssen Unternehmen bzw. deren Lenker lernen, umzugehen. Denn, und das ist der dritte Grund, warum sich der Anspruch an zukünftige Arbeitgeber stark verändert hat, es herrscht in immer mehr Branchen ein Fachkräftemangel – vom Öffentlichen Dienst bis zum Handwerk.

„Sie kommen in die engere Auswahl ist etwas, das heute Bewerber zu den Arbeitgebern sagen.“

Hat der Fachkräftemangel den Arbeitsmarkt wirklich schon so stark verändert, dass man von einem Arbeitnehmermarkt sprechen kann?

Definitiv. Der Fachkräftemangel hat derzeit laut einer Erhebung im Rahmen der ifo Konjunkturumfrage einen neuen Höchststand erreicht. Im Juli 2022 waren demnach 49,7 Prozent der Unternehmen deswegen bereits beeinträchtigt. „Sie kommen in die engere Auswahl“ ist mittlerweile ein Satz, den Bewerber zu ihren potenziellen Arbeitgebern sagen. Daher können sich Mitarbeitende in Personalabteilungen auch nicht mehr darauf beschränken, eintrudelnde Bewerbungen zu scannen. Sie müssen vielmehr selbst Active Sourcing betreiben, also aktiv werden und vielversprechende Anwärter zum Beispiel in den sozialen Netzwerken wie Linden oder Xing direkt auf eine Vakanz ansprechen. Und sie möglichst schnell an das Unternehmen binden. Neben der Anwerbung neuer Angestellter, kann es aber auch ein Lösungsansatz sein, bestehende Mitarbeiter über verschiedene Benefits und Programme an das Unternehmen zu binden.

Wie können Arbeitgeber nach Mitarbeiter an das Unternehmen binden? Reicht es, einfach mehr Lohn zu bieten oder geht es den Arbeitnehmern um mehr?

Mehr Lohn ist sicher ein Schritt – vor allem in den Bereich, die chronisch unterbezahlt sind und stark vom Fachkräftemangel betroffen sind, beispielsweise in der Pflege. Das Geld allein ist es aber nie, was Arbeitnehmer anzieht bzw. bindet. Bei einem Kunden von mir, mit dem ich an seinem Linkedin-Profil gefeilt hatte, hat sich eine Agentur mit einem Pitch beworben. Es war eine recht kleine Agentur. Nicht zu vergleichen, mit dem Renommee, den sein aktueller Arbeitgeber in der Branche genoss. Aber durch die Präsentation des Geschäftsführers der Unternehmenswerte und der Argumente, warum mein Kunde genau zu dieser Agentur passt, haben sie ihn überzeugt. Bei den weiteren Verhandlungen kommt es dann darauf an, was dem Bewerber neben dem Aufgabenbereich noch wichtig ist und an Zusatzangeboten in Frage kommt. Von Fitnessangeboten, über Versicherungen und Weiterbildungen bis zu Mobilitätsangeboten: Unternehmen sollten möglichst eine Auswahl zur Verfügung haben, denn die unterschiedlichen Generationen und Persönlichkeiten legen auch auf verschiedene Dinge wert und sind aktuell in einer sehr guten Verhandlungsposition.

Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach Zusatzleistungen wie betriebliche Krankenversicherungen oder Altersvorsorge für die Attraktivität von Arbeitgebern heute?

Ich persönlich glaube, dass insbesondere Gesundheitsangebote wie eine bKV und Altersvorsorge-Produkte eine hohe Attraktivität bei jungen Arbeitnehmern haben, denn die Gen Y ist sich darüber bewusst, dass sie real über weniger Einkommen verfügen als ihre Eltern. Und sie wissen, dass der Generationenvertrag für ihre Generation nicht mehr funktioniert. Immer weniger Arbeitnehmer müssen einen Rentennehmer versorgen. Außerdem sind meiner Meinung nach, vor allem junge Menschen, die sich noch nicht groß mit diesen Themen auseinandergesetzt haben, dankbar, wenn ihnen ihr Unternehmen auch dort etwas Orientierung bietet. Generell ist zu beobachten, dass manche Arbeitgeber nahezu einen Full Service anbieten: Von der Übernahme der Kosten des Arbeitsweges, über Fitness und Mental Health Programme bis zur ergänzenden Versorgung im Alter oder Krankheitsfall.

Häufig sind große Unternehmen schon sehr weit, wenn es um die Definition der Arbeitgebermarke geht. Ist das auch etwas, was für kleine und mittelständische Unternehmen relevant ist?

Unbedingt. Gerade kleine Unternehmen sind darauf angewiesen, eine attraktive Arbeitgebermarke aufzubauen, denn ansonsten verblassen sie vor den großen Marken. Wichtig ist dabei, die eigenen Stärken und Werte des eigenen Unternehmens und dessen Kultur zu kennen, um auch die richtigen Bewerber anzusprechen, die am Ende auch zum Unternehmen und seiner Kultur passen. Handelt es sich zum Beispiel um ein familiäres Arbeitsumfeld, gibt es flexible Arbeitszeiten, flache Hierarchien oder kurze Entscheidungswege. Das sind die zentralen Vorteile, die es zu betonen gilt.
Kleine Firmen, beispielsweise Start-ups oder Handwerker haben meist nicht so viele Ressourcen wie große Firmen. Sie können dies aber durch Werte ausgleichen, die den jungen Generationen wichtig sind. Ich kenne beispielsweise einen Dachdeckerbetrieb, der seinen Mitarbeitern eine 4-Tage-Woche anbietet. Darüber haben sie sich von Konkurrenzunternehmen abgehoben und konnten so junge Mitarbeiter für sich gewinnen. Wer es jetzt noch schafft, dass die eigenen Angestellten diese Werte auch mit nach außen tragen, kann mit relativ wenig Ressourcen, viel erreichen.

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